Süddeutsche Zeitung, Montag, 18. September 2023
„Eine gewisse Schieflage“
Ingo Schulze fand Fehler im DDR-Roman der West-Autorin Charlotte Gneuß. Er verteidigt sie trotzdem
Seit Längerem wird diskutiert, wie und von wem über die DDR und „den Osten“ gesprochen werden kann. Ein in der vergangenen Woche bekannt gewordener Vorfall schien eine neue Eskalationsstufe dieser Debatte darzustellen. Es geht um den in der DDR spielenden Roman „Gittersee“ von der 1992 im westdeutschen Ludwigsburg geborenen Autorin Charlotte Gneuß, der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht. Der aus Dresden stammende Schriftsteller
Ingo Schulze hat eine Liste mit Korrekturen zu dem Roman verfasst. Sie gelangte nicht nur an den Adressaten, den
S.-Fischer-Verlag, sondern auch an die Buchpreis-Jury. Damit schien insinuiert, dass diese ihr Qualitätsurteil über den Roman wegen der historischen Fehler überdenken sollte. Schulze hat die Fragen der SZ per E-Mail beantwortet.
SZ: Sie haben Korrekturen zum Roman „Gittersee“ von Charlotte Gneuß verfasst. Wann, warum und zu welchem Zweck?
Ingo Schulze: Die Lektorin des Buches bat mich schon im Juni oder früher, ich kam dann erst im Juli dazu. „Gittersee“ liest sich ja gut, ich stutzte dann bei einem Detail, noch einem. Ich habe die Stellen notiert und auch bei anderen nachgefragt, bei Kollegen, Freunden in Dresden, auch in der Familie, wie sie sich erinnern, wie sie das sehen. Es ging auch mal um eine Jahreszahl. Diese Anmerkungen habe ich am 23. Juli an die Lektorin und den Verleger geschickt. Ich gratulierte dem Verlag zur Autorin und fand, dass das, was mir aufgefallen war, problemlos zu ändern wäre, ohne Figuren oder der Handlung Abbruch zu tun. Ich war nur leider spät dran. Es war gewissermaßen wie ein ungeplantes Außenlektorat.
Halten Sie Faktenchecks bei Romanen für sinnvoll?
Ein Fanatiker bin ich da nicht. Aber wenn eine bestimmte Zeit und ein bestimmter Ort beschrieben werden, sollte das möglichst stimmen, vor allem auch der Sprachgebrauch. So etwas wie „passt schon“ kommt mir zum Beispiel im Dresden der Siebzigerjahre seltsam vor. Oder man weicht ganz bewusst ab, das geht ja auch. Literatur und Zeitgeschichtsschreibung sind verschiedene Dinge, da gelten jeweils ganz andere Maßstäbe. Man kann nicht das eine gegen das andere ausspielen. Sie können sich aber gegenseitig erhellen, Literatur als „innere Seite der Weltgeschichte“.
Sie publizieren wie Charlotte Gneuß bei Fischer. Wie haben die Autorin und der Verlag auf Ihre Anmerkungen reagiert?
Sie haben sich natürlich bedankt – es steckte ja auch einige Arbeit in der Sache. Offenbar ist einiges in der zweiten oder dritten Auflage übernommen worden, manche Änderung muss auch literarisch etwas gebracht haben. Bei einigen Anmerkungen war klar, dass es keine Eindeutigkeit gibt.
Ein Teil Ihrer Anmerkungen ist an die Jury des Deutschen Buchpreises gelangt. Welche Rolle haben Sie dabei gespielt?
Keine. Ich habe, wie gesagt, in der Anfangszeit mit einigen gesprochen, ich habe auch einem Freund meine Anmerkungen geschickt. Aber das geschah alles auf persönlicher Ebene.
Es gibt derzeit eine Debatte über das Verhältnis von West- und Ostdeutschen. Hat Ihre Intervention damit zu tun?
Die Ost-West-Debatte steht ja weiterhin im Raum. Ein Grund dafür ist meiner Ansicht nach die Frage nach der Deutungshoheit. Dass so etwas wie meine Anmerkungen, die jedem Leser meines Alters aus dem Osten auffallen könnten, überhaupt den Anschein erweckt, etwas substanziell Anstößiges zu markieren oder selbst anstößig zu sein, ist vielleicht auch ein Indiz für eine gewisse Schieflage. Abgesehen davon, dass die Jüngeren vieles nicht aus eigener Erfahrung wissen können, sind die Institutionen, auch der Literaturbetrieb, westlich geprägt. Der Osten bleibt dabei hin und wieder unterbelichtet.
Ist es ein Problem, wenn eine nach der Wende im westlichen Teil Deutschlands geborene Autorin einen Roman schreibt, der 1976 in Dresden spielt?
Ich würde immer dafür eintreten, dass jede und jeder jederzeit und überall über alles schreiben darf. Deshalb gibt es ja Literatur. Andererseits ist der Osten oft eine Verfügungsmasse, derer man sich für die eigenen Geschichten bedient, was in aller Regel klischeehaft wird. Damit meine ich jetzt nicht „Gittersee“. Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen.
Interview: Lothar Müller
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