Unsere schönen neuen Kleider
Gegen die marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte

Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Sie alle kennen das Märchen Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen. Es ist ein Märchen, das sich leicht nacherzählen lässt, denn es läuft auf eine Pointe hinaus, die man kennt – oder zu kennen glaubt – und die in unserem Alltagsbewusstsein gegenwärtig ist. Sooft ich selbst an das Märchen dachte oder es nacherzählte, endete ich damit, dass durch den Ruf eines Kindes: „Aber der Kaiser hat ja gar nichts an!“ der ganze Schwindel auffliegt und das Volk schließlich ruft: ?„Aber er hat ja gar nichts an!“

Doch so war es nur in meiner Vorstellung. Hans Christian Andersen lässt seine Geschichte besser, das heißt, er lässt sie mehrdeutiger enden, auch wenn es nur zwei Sätze sind, die meine Erinnerung unterschlagen hat.

Erlauben Sie mir bitte, Ihnen das Märchen vorzulesen, es nachzuerzählen wäre längst nicht so schön.

Des Kaisers neue Kleider
Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, daß er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um Theater und liebte es nicht, in den Wald zu fahren, außer um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem König sagte, er ist im Rat, so sagte man hier immer: „Der Kaiser ist in der Garderobe!“ ?In der großen Stadt, in der er wohnte, ging es sehr munter her. An jedem Tag kamen viele Fremde an, und eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, daß sie das schönste Zeug, was man sich denken könne, zu weben verstanden. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht würden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, daß sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei. ?’Das wären ja prächtige Kleider‘, dachte der Kaiser; ’wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muß sogleich für mich gewebt werden!‘ Er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten. ?Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das Geringste auf dem Stuhle. Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein. ’Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!‘ dachte der Kaiser, aber es war ihm beklommen zumute, wenn er daran dachte, daß keiner, der dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es sehen könne. Er glaubte zwar, daß er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern senden, um zu sehen, wie es damit stehe. Alle Menschen in der ganzen Stadt wußten, welche besondere Kraft das Zeug habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei. ?’Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden‘, dachte der Kaiser, ’er kann am besten beurteilen, wie der Stoff sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er!‘ ?Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. ’Gott behüte uns!‘ dachte der alte Minister und riß die Augen auf. ’Ich kann ja nichts erblicken!‘ Aber das sagte er nicht. ?Beide Betrüger baten ihn näher zu treten und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl, und der arme, alte Minister fuhr fort, die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. ’Herr Gott‘, dachte er, ’sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, daß ich erzähle, ich könne das Zeug nicht sehen!‘ ?„Nun, Sie sagen nichts dazu?“ fragte der eine von den Webern. ?„Oh, es ist niedlich, ganz allerliebst!” antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. „Dieses Muster und diese Farben! – Ja, ich werde dem Kaiser sagen, daß es mir sehr gefällt!“ ?„Nun, das freut uns!“ sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkomme, und das tat er auch. ?Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold zum Weben. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort, wie bisher an den leeren Stühlen zu arbeiten. ?Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigen Staatsmann hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stehe und ob das Zeug bald fertig sei; es ging ihm aber gerade wie dem ersten, er guckte und guckte; weil aber außer dem Webstuhl nichts da war, so konnte er nichts sehen. ?„Ist das nicht ein ganz besonders prächtiges und hübsches Stück Zeug?“ fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster, das gar nicht da war. ?’Dumm bin ich nicht‘, dachte der Mann; ’es ist also mein gutes Amt, zu dem ich nicht tauge! Das wäre seltsam genug, aber das muß man sich nicht merken lassen!‘ Daher lobte er das Zeug, das er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. „Ja, es ist ganz allerliebst!“ sagte er zum Kaiser. ?Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge. Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl sei. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter denen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner waren, die schon früher dagewesen, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser oder Faden. ?„Ja, ist das nicht prächtig?“ sagten die beiden ehrlichen Staatsmänner. „Wollen Eure Majestät sehen, welches Muster, welche Farben?“ und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, daß die andern das Zeug wohl sehen könnten. ?’Was!‘ dachte der Kaiser; ’ich sehe gar nichts! Das ist ja erschrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte.‘ „Oh, es ist sehr hübsch“, sagte er; „es hat meinen allerhöchsten Beifall!“ und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl; er wollte nicht sagen, daß er nichts sehen könne. Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte, sah und sah, aber es bekam nicht mehr heraus als alle die andern, aber sie sagten gleich wie der Kaiser: „Oh, das ist hübsch!“ und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erste Mal bei dem großen Feste, das bevorstand, zu tragen. ?„Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!“ ging es von Mund zu Mund, und man schien allerseits innig erfreut darüber. Der Kaiser verlieh jedem der Betrüger ein Ritterkreuz, um es in das Knopfloch zu hängen, und den Titel Hofweber. ?Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem das Fest stattfinden sollte, waren die Betrüger auf und hatten sechzehn Lichte angezündet, damit man sie auch recht gut bei ihrer Arbeit beobachten konnte. Die Leute konnten sehen, daß sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertigzumachen. Sie taten, als ob sie das Zeug aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mit großen Scheren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: „Sieh, nun sind die Kleider fertig!“ ?Der Kaiser mit seinen vornehmsten Beamten kam selbst, und beide Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, gerade, als ob sie etwas hielten, und sagten: „Seht, hier sind die Beinkleider, hier ist das Kleid, hier ist der Mantel!“ und so weiter. „Es ist so leicht wie Spinnwebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper, aber das ist gerade die Schönheit dabei!“ ?„Ja!“ sagten alle Beamten, aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts da. ?„Belieben Eure Kaiserliche Majestät Ihre Kleider abzulegen“, sagten die Betrüger, „so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!“ ?Der Kaiser legte seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzogen, die fertig genäht sein sollten, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel. ?„Ei, wie gut sie kleiden, wie herrlich sie sitzen!“ sagten alle. „Welches Muster, welche Farben! Das ist ein kostbarer Anzug!“ - ?„Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, der über Eurer Majestät getragen werden soll!“ meldete der Oberzeremonienmeister. ?„Seht, ich bin ja fertig!“ sagte der Kaiser. „Sitzt es nicht gut?“ und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seine Kleider recht betrachte. ?Die Kammerherren, die das Recht hatten, die Schleppe zu tragen, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich merken zu lassen, daß sie nichts sehen konnten. ?So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: „Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!“ Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese. ?„Aber er hat ja gar nichts an!“ sagte endlich ein kleines Kind. „Hört die Stimme der Unschuld!“ sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte. ?„Aber er hat ja gar nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: ’Nun muß ich aushalten.‘ Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.

Wie einfältig kam ich mir selbst vor, als ich diesen Schluss las. Was hatte ich denn gedacht, was nach dem Ruf des Kindes, nach dem Ruf des ganzen Volkes passieren würde? Sollten der Kaiser und sein Hofstaat erröten und die Flucht ergreifen und damit eingestehen, dass sie einem Schwindel aufgesessen sind? Sollte die einfache Wahrheit, laut ausgesprochen, die Welt verändern? Wer den Herbst 1989 miterlebt hat, ist womöglich anfällig für solch eine Erwartung.

Wie im Märchen ist auch in unserer Welt eigentlich alles recht offensichtlich: die beständige Schwächung der Demokratie, die zunehmende soziale und ökonomische Polarisierung in Arm und Reich, der Ruin des Sozialstaates, die Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche (der Bildung, des Gesundheitswesens, des öffentlichen Verkehrssystems usw.), die Blindheit für den Rechtsextremismus, die offene und verdeckte Zensur (mal als direkte Ablehnung, mal in Form von Quote oder Format), und, und, und …

Wer hinsieht, müsste doch eigentlich sehen, was passiert! Oder nicht?

 

Wenn Sie mich fragen, warum ich Ihnen mit diesem Märchen komme, so müssen Sie mich vorher noch fragen, warum ich überhaupt hier stehe. Ich lese Ihnen ja heute nicht aus meinem neuesten Buch vor. Es geht auch nicht, wie bei meinem letzten Besuch in diesem Haus vor einem Jahr, um die Gegendemonstrationen zu den Neonaziaufmärschen und um – zumindest in den beiden Vorjahren – das wenig demokratiewürdige Verhalten der Stadtoberen.

Bisher ist es mir immer gelungen, solch ehrenvolle Rede-Einladungen zu umgehen, ohne zu deutlich schreiben zu müssen: Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich erzählen sollte, was die Zuhörer nicht schon längst wissen oder unschwer selbst nachlesen könnten. Wenn ich jetzt doch hier stehe, so nicht, weil ich glaube, Ihnen etwas sagen zu können, was Sie nicht schon längst wissen oder unschwer selbst nachlesen können, sondern weil das, was Sie längst wissen oder unschwer selbst nachlesen können in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielt und praktisch keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungen hat, die in diesem Land getroffen werden.

Meine bescheidenen Erfahrungen als Unternehmer haben mich nie zu dem Glauben verleitet, ich würde etwas von Wirtschaft oder gar vom Finanzwesen verstehen. Das glaubte ich nicht mal, als ich mich wunderte, wie unangemessen oder gar falsch die kostspieligen Hinweise von Beratern waren, die Jura oder Betriebswirtschaft studiert hatten und über langjährige Erfahrung in der sogenannten freien Wirtschaft verfügten. Je mehr ich aber von Wirtschaftswissenschaftlern, Finanzexperten und Politikern zu hören bekomme, wie kompliziert und unberechenbar die Abläufe der Ökonomie und des Finanzwesens sind, umso mehr habe ich den Eindruck, dass ich grundsätzlich kapiere, was da passiert.

Ich möchte den Finger heben und fragen: Wenn ich eine Geldanleihe riskiere mit hohen Zinsen, dann muss ich auch wissen, dass ich auch gar keine Zinsen bekomme oder ein Teil meines Geldes oder gar alles weg sein kann. Wenn ich mich aufs Spekulieren verlege, dann muss ich auch das Risiko tragen. Sobald ich aber eine Bank bin, gilt das offenbar nicht mehr. Wenn die Bank etwas gewinnt, dann gehört es ihr, wenn sie sich verspekuliert, werden die Verluste von der Gemeinschaft übernommen. Und keiner der Akteure wird bestraft oder sonst zur Rechenschaft gezogen. Der einzige Banker, der vor Gericht steht, ist der Chef der Hypo Real Estate, aber nicht als Angeklagter sondern als Kläger, weil ihm offenbar noch etliche Millionen zustehen.

Kann es nicht sein, möchte ich die Experten fragen, dass es verschiedene Interessen gibt? Dass es diejenigen gibt, die daran verdienen und jene, die es bezahlen? Könnte es nicht sein, dass wir nicht alle im selben Boot sitzen? Dass wir nicht alle über unsere Verhältnisse gelebt haben?

In den letzten zehn Jahren ist der Reallohn um zwei Prozent gefallen, zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland besitzen zwei Drittel des Gesamtvermögens, die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung hingegen (etwa 35 Millionen Menschen) besaß im Jahr 2007 mit 103 Milliarden Euro nur 1,4 Prozent des Gesamtvermögens und damit weniger als die zehn reichsten Deutschen im selben Jahr, nämlich 113, 7 Milliarden Euro. Und diese Entwicklung hält an. Laut UNICEF lebt jedes sechste Kind in Deutschland in Armut, das Deutsche Kinderhilfswerk schätzt die Zahl der in Armut lebenden Kinder gar auf sechs Millionen.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass in nahezu allen öffentlichen Bereichen, ganz gleich ob Bund, Land oder Kommune, die Budgets von Jahr zu Jahr gekürzt werden. Immer weniger Geld ist für die öffentlichen Belange vorhanden. Und dies, obwohl unser Bruttoinlandsprodukt – mit Ausnahme weniger Jahre –, über Jahrzehnte kontinuierlich gewachsen ist.

Während den einen jeder Cent vorgerechnet wird, werden auf der anderen Seite Milliardenbeträge in Windeseile aus dem Ärmel gezaubert, für die im Zweifelsfalle das Gemeinwesen geradezustehen hat.

Was sind das für neue Selbstverständlichkeiten? Was sind das für neue Kleider und wie konnten sie gemacht und vor die Leute geführt und so ausgiebig bewundert werden?

 

Wenn es eine Rechtfertigung dafür gibt, dass ich mich heute vor Sie hinstelle, dann ist diese am ehesten in dem Versuch zu finden, das Bekannte oder allzu Bekannte noch einmal zu betrachten, noch einmal zu hören oder zu lesen, wie eben auch dieses Märchen.

Die Brisanz von Des Kaisers neue Kleider erfuhr ich zu DDR-Zeiten bei der Lektüre eines Essays von Franz Fühmann. Er machte sich über die Art und Weise der Kritik im Lande lustig. Diese sei so, als bemängele man am neuen Gewand des Kaisers einen Dreck- oder Fettfleck statt zu sagen, er habe doch gar nichts an.

Die Kritik des vermeintlichen Fettflecks, das verstand ich, täuscht Kritik nur vor, es simuliert Opposition, und ist dabei staatserhaltender, affirmativer als jede Lobpreisung oder Rechtfertigung des Bestehenden. Denn die Pseudokritik erkennt grundsätzlich an, was gar nicht vorhanden ist.

Damit hatte Fühmann einen Anspruch formuliert, der schwer oder kaum einzulösen war. Konsequenterweise hätte das nämlich bedeutet, bei jedem Gespräch, in jedem Text, ja bei jeder Äußerung ein oder mehrere Ceterum censeo hinzuzufügen, ein: Im Übrigen meine ich – nicht, dass Karthago zerstört werden solle, aber die Mauer. Denn solange ich die Mauer nicht erwähnte, solange akzeptierte ich stillschweigend die falsche Voraussetzung, die allem zugrunde lag, nämlich die, dass mir ja gar keine Wahl blieb. Die Mauer, sofern ich sie verschwieg, diskreditierte Kritik wie Zustimmung gleichermaßen. Dass man dieses Ceterum censeo lange nicht sagen konnte, ohne aus den Zusammenhängen der Gesellschaft verbannt zu werden, hieß aber nicht, dass man es nicht mitdachte, ja es war bestimmend für die eigene Haltung.

1962 geboren, erlebte ich in den achtziger Jahren, wie die Herrschenden von Jahr zu Jahr mehr in die Defensive gerieten. Der Freiraum, in dem gesprochen, argumentiert und gehandelt werden konnte, vergrößerte sich Schritt um Schritt, Buch um Buch, Artikel um Artikel wie auch mit jedem im Alltag erkämpften Freiraum. Obwohl ich mir Veränderungen, wie sie im Herbst 1989 kommen sollten, nicht vorstellen konnte, war ich mir sicher, dass sich etwas bewegen würde. Und ich fühlte mich am richtigen Platz. Ich beanspruchte für mich die Rolle des Kindes, das durchsah, das kapierte, was da gespielt wurde. Schwierig war das nicht, weil eigentlich die meisten, zumindest jene, mit denen ich sprach und deren Nähe ich suchte, Ähnliches beobachteten wie ich. Deshalb konnten wir auch so viele Witze machen über die abgewetzte Unterwäsche des Kaisers und über seine dünnen faltigen Beinchen, auf denen er einherstolzierte, wackliger mit jedem Jahr. Die Kammerherren, die sich nicht oft genug nach der Schleppe des Kaisers bücken konnten, erschienen uns zu erbärmlich, als dass uns noch Witze zu ihnen eingefallen wären.

Und plötzlich hielten sich ein paar Handwerksburschen, Marktfrauen und der Bänkelsänger nicht mehr ans Wispern und Flüstern, sondern riefen, als könnte das gar nicht anders sein „Der Kaiser hat ja gar keine Kleider an!“ und lachten laut. Die Umstehenden erschraken, als müsste nun ein Blitz vom Himmel niedergefahren kommen und das übermütige Volk strafen. Andere warnten, es nicht zu toll zu treiben und das Land ins Chaos zu stürzen. Statt eines Flecks fanden sie jetzt drei oder vier Flecke auf des Kaisers neuen Kleidern. Und höflich baten sie ihn, sein Gewand reinigen zu lassen.

Unter den vielen Diskussionen aus dem Herbst 1989 ist mir auch eine in Erinnerung geblieben, bei der eine Freundin uns Jungrevolutionäre ins Gebet nahm: Wenn wir nicht wüssten, wie der Staat funktionierte, wenn wir nicht mal in der Lage wären, den Rat der Stadt vom Rat des Kreises zu unterscheiden und auch nicht wüssten, wer wofür zuständig sei, sei es lächerlich, Veränderungen zu fordern. Man müsse doch wissen, wie ein Staat, ein Kreis, eine Stadt funktioniere, wenn man die jetzigen Herren ersetzen wolle. Auch ihr ging es um Veränderungen, aber um konkrete Veränderungen. In uns sah sie Revoluzzer, die viel Radau machten, aber den Staat, den sie verbessern wollten, nur ins Chaos stürzen würden.

Ich weiß nicht mehr, was ich ihr damals geantwortet habe. Aber uns ging es ja nicht darum, einen besseren Vorsitzenden des Rates des Kreises zu wählen oder manche Verordnungen oder Gesetze zu ändern, uns ging es tatsächlich ums Große und Ganze.

Und dann erfüllte sich alles wie im Märchen. Wir riefen: Die Mauer muss weg! Und die Mauer verschwand. Wir riefen: Neues Forum zulassen! Und das Neue Forum wurde zugelassen. Wir riefen: Demokratie jetzt oder nie! Und die Demokratie kehrte ein. Wir riefen: Die Stasi muss weg! Und die Stasi verschwand – zumindest von der Bildfläche. Wir riefen: Freie Wahlen! Und es gab freie Wahlen. Der Ruf, dass der Kaiser ja gar nichts anhat, führte tatsächlich dazu, dass er und sein Hofstaat erschraken und das Weite suchten, wobei Zepter und Krone, die Insignien der Macht, auf der Flucht verlorengingen. Das wurde sogleich als Menetekel gedeutet, diesem Staat wäre nicht mehr zu helfen und er sollte sich deshalb besser einem anderen anschließen.

Wenn ich mir den DDR-Hofstaat ansehe, dann sind es vor allem zwei Aspekte, die mich interessieren. Der eine ist positiv: Die Art und Weise, wie die DDR ihr Ende fand, ist selten in der Geschichte. Dass ein so hochgerüsteter und auf scheinbar alle Eventualitäten vorbereiteter Apparat sich letztendlich beiseite schieben ließ, ohne wild um sich zu schießen, ist ein Glücksfall.

Indem sie den Staat aber – womöglich im Glauben, dabei ihre eigene Haut zu retten – aus den Händen fallen ließen, haben die DDR-Oberen noch in ihrem Abgang der Demokratie und Selbstbestimmung einen schlechten Dienst erwiesen.

Egon Bahr hat in einer Rede davon berichtet, wie er Egon Krenz fragte, warum dieser, wenn doch die Öffnung der Mauer beschlossene Sache gewesen sei, nicht zum Telefon gegriffen, Kohl angerufen und ihn eingeladen habe, mit ihm zusammen den Schlagbaum zu öffnen. Statt ein paar Jahre Knast, hätte er vielleicht sogar das Bundesverdienstkreuz bekommen. Darauf Krenz: Er habe nicht gewusst, wie er Kohl hätte erreichen sollen.

Ich glaube, dass diese Geschichte stimmt. Und selbst wenn sie nicht ganz stimmen sollte, ist sie trotzdem wahr. Die DDR-Führung hatte, wie wir früher sagten, kein Format. An entscheidender Stelle gab es niemanden, der eigenständig hätte handeln können und einen Blick für die Konsequenzen, für die Zukunft gehabt hätte. Wer aber sollte so einen Staat noch ernst nehmen, dessen Grenzöffnung sich einem Unfall, ach, nicht mal, einem simplen Missverständnis zu verdanken schien.

Der Coup von Helmut Kohl war die Umarmung der DDR-Blockpartei CDU. Eigentlich hätte diese Verbrüderung mit den ausgewiesenen Opportunisten undenkbar sein müssen. Wenn die Ost-CDU überhaupt eine Rolle im Herbst ’89 gespielt hat, dann eine unangenehme. Da Kohl keinerlei Skrupel hatte, gab es nun eine Sirupspur in den Westen. Die Botschaft lautete: „Wählt ihr die, wählt ihr mich.“ Gegen das Versprechen „Wohlstand über Nacht!“ war kein Kraut, schon gar kein Argument gewachsen. Und dieser Trick funktionierte. Die eben errungene Macht glitt aus den Händen. Die Zeit einer Demokratie, in der Geld und Besitzstände kaum eine Rolle spielten und in der es möglich gewesen war – wenn auch nicht einfach –, in Betrieben, Schulen, Universitäten oder Theatern jene zu wählen, die man sich als neue Chefs wünschte, war vorbei.

Statt einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten gab es einen Beitritt des Ostens zum Westen. Das hieß: Vergesst alles, was war, lernt alles, was ist. Eine ganze Volkswirtschaft wurde auf den Markt geworfen. Zurück blieb eine zu siebzig bis achtzig Prozent deindustrialisierte Region. An der Rechnung dafür zahlen wir noch heute.

Trotzdem: Die Hoffnung auf eine bessere Welt war groß und berechtigt. Durch das Ende der Blockkonfrontation, durch das Ende des Kalten Krieges und des Wettrüstens, würden Geld und Kraft nun für die eigentlichen Probleme dieser Welt da sein, für sauberes Wasser, die Bekämpfung von Hunger und Krankheiten und Umweltzerstörungen, es würde keine Stellvertreterkriege mehr geben, allmählich würden sich Wohlstand und Bildung in der Welt ausbreiten. Was sollte dem jetzt noch entgegenstehen? Und war das nicht mehr als eine Hoffnung? War das nicht geradezu notwendig? Oder war ich einem Selbstbetrug erlegen?

Mit Selbstbetrug hat auch Andersens Märchen zu tun.

Der König, der sich weder um die Soldaten noch um das Theater oder die Regierungsgeschäfte kümmert, umso mehr aber um seine Garderobe, steht dem Wohlergehen der Stadt zumindest nicht im Wege. Denn dort, wie wir hören, geht es munter zu und jeden Tag kommen viele Fremde. Unter diesen sind, wie könnte es auch anders sein, zwei Betrüger. Mit ihnen beginnt die eigentliche Geschichte.

Andersen gibt den beiden eine klare Rolle: Sie betrügen vorsätzlich. Über die Gründe erfahren wir nichts. Vielleicht wollen sie einfach Knete machen, so viel, wie sie mit normaler Weberei nie verdienen würden. Vielleicht machen sie sich auch nur einen Spaß. Als Leser wünscht man sie nicht an den Galgen. Es sind gewitzte Typen, die Kaiser, Hofstaat und Volk genau studiert haben. Ihr Wissen ist ihr Kapital, damit spekulieren sie auf die Schwächen der Gesellschaft.

(Andersen macht uns von Anfang an zu Komplizen. Als Leser geraten wir nie in Versuchung, uns zu fragen, ob die Betrüger auch wirklich Betrüger sind, und so können wir das, was geschieht – wie sonst nur die Betrüger selbst – als Schauspiel genießen. Zudem dürfen wir uns in die Brust werfen und sagen, mir wäre das nie passiert, ich wäre nie darauf reingefallen.)

Dass die beiden sofort Gehör beim König finden, verwundert nicht. Würden sie allerdings nur vorgeben, die unglaublichsten Stoffe weben zu können, wäre ihre Performance von kurzer Dauer. Sie erfinden für ihr Produkt eine Erzählung, sie verpassen ihren Kleidern ein Image, das etwas noch nie Dagewesenes verspricht. Sie versprechen etwas, das es tatsächlich noch nie gab und eigentlich auch nicht geben kann. Selbst ein König im Märchen könnte und sollte sich darüber wundern. Jene Kleider sind nicht nur besonders schön, sondern sie besitzen die wunderbare Eigenschaft, „daß sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.“ In anderen Übersetzungen heißt es „unerlaubt dumm“.

Diese Erfindung ist raffiniert, ja sie ist geradezu genial zu nennen. Akzeptiert man diese Erzählung, dann weiß man, was richtig und was falsch ist und wie die Welt wirklich ist. Deshalb ist es unwichtig, die Welt zu betrachten, es geht nur noch darum, den Beobachter der Welt zu beobachten und zu werten. Denn was der Beobachter auch sagt, sagt unter diesen Voraussetzungen nichts mehr über die Realität aus, sondern nur noch über den Beobachter selbst. Wenn ich also nicht erkennen kann, dass unsere Gesellschaft gerecht ist, werde ich nicht nach meinen Argumenten gefragt, dann wird nicht darüber diskutiert, warum ich unsere Gesellschaft nicht gerecht finde, sondern ich habe mich selbst entlarvt, weil es ja schon feststand, dass die Wirklichkeit gerecht ist. Gefragt wurde ja nur, weil man wissen wollte, was ich für einer sei. Und nun wissen alle, dass ich zu keinem Amt tauge, unverzeihlich dumm bin und mir die DDR zurückwünsche.

?„’Das wären ja prächtige Kleider‘, dachte der Kaiser; ’wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muß sogleich für mich gewebt werden!‘“

Der Kaiser will die Kleider nicht, wie man erwarten könnte, weil sie besonders prächtige Kleider wären. Ja es sind gar nicht die Kleider, die ihn interessieren, sondern nur ihre Eigenschaft. Diese Eigenschaft würde ihn über alle anderen stellen – solange nur er darum weiß.

Verwunderlich ist, dass sich niemand über dieses Angebot der Betrüger wundert. Niemand bittet die Fremden zu erklären, was ihre Maßstäbe für klug und dumm sind oder mit welcher Technologie sie das Wunder bewerkstelligen wollen. Den beiden wird es leicht gemacht. Sie brauchen nicht mal Startkapital – das erhalten sie vom Kaiser.

Ein Rest Beklommenheit ist dem Kaiser dennoch geblieben. Er geht nicht selbst in die Werkstatt der Betrüger, sondern schickt seinen besten Mann, den guten alten Minister, der sein Vertrauen besitzt. Doch noch bevor dieser sich auf den Weg macht, heißt es: „Alle Menschen in der ganzen Stadt wußten, welche besondere Kraft das Zeug habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.“ Ein wichtiger Satz. Es wissen nicht nur alle, sondern sie haben diese neue Wahrheit bereits für sich selbst akzeptiert und in ihrer eigenen Welt heimisch angesiedelt. Wie das gekommen ist, bleibt dahingestellt. Ob die Betrüger selbst die Nachricht verbreitet haben, ob sie sich wie von selbst von Mund zu Mund verbreitet hat oder der Aufmacher in der Zeitung war – schlussendlich: die Story sitzt, sie wirkt, sie ist Wirklichkeit geworden – alle Menschen wussten.

Wer die Fernsehbilder vom Mauerfall sah oder jene Szenen, in denen DDR-Bürger über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in Prag kletterten, wer den Aufschrei der dort im Garten ausharrenden Flüchtlinge hörte, kam gar nicht auf die Idee zu fragen, welches System besser sei. Das war offensichtlich, das schien eine evidente Wahrheit zu sein, eine Abstimmung mit den Füßen.

Was in Osteuropa geschah, insbesondere in Deutschland, hatte Signalwirkung für die ganze Welt. Deutschland war und ist das Beispiel, an dem das Ende des Kalten Krieges durchexerziert wird. Denn auch im osteuropäischen Wettstreit schlagen die Bilder vom Mauerfall alles andere aus dem Rennen, sei es Gorbatschow, sei es der polnische Runde Tisch, die ungarischen Reformen und erst recht die dunklen Bilder von den frühen Montagsdemonstrationen.

Die politische Implosion des Ostblocks, das Ende des Kalten Krieges und damit auch das Ende jener bipolaren Weltordnung blieb für kein Land ohne Folgen.

Zu Beginn der neunziger Jahre spricht sich in zwei Buchtiteln eine damals weit verbreitete und zugleich auch offiziell geschätzte Stimmung aus:

Zum einen ist das Francis Fukuyama, der 1992 den Begriff vom „Ende der Geschichte“ wiederbelebte und für die Gegenwart ausrief (Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992). Hatte Hegel das Ende der Geschichte mit dem Sieg der Ideen der Französischen Revolution in der Schlacht bei Jena gesehen, so deutet Fukuyama die Hegelsche Idee mit Marx, Kojeve und Marcuse gegen Marx als eine Art letzte Synthese, in der das liberale christliche Bürgertum, der Westen, nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion zur bestimmenden Größe wird. In dieser Weltsicht wird die Idee des Sozialismus und Kommunismus – dem Fukuyama ironischer Weise in seiner geradlinigen Heilserwartung strukturell verschwistert ist – zu einer Art Unfall oder Krankheit, der nun behoben, die nun ausgestanden ist. Die Menschheit kommt in einer Art höherem Naturzustand zur Ruhe, das Paradies ist greifbar nahe.
Scheinbar gegensätzlich argumentiert Samuel Huntington mit seinem „Clash of Civilizations“, dem „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington,The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1993; dt. Ausg.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 2002). Er sieht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die westliche Hegemonie noch nicht gekommen, dafür aber das Zeitalter, in dem der Westen mit den islamischen Ländern und mit China notwendigerweise in Konflikt geraten wird.
Beide Bücher haben vor allem eines gemeinsam: Sie sehen den Westen als widerspruchslose Einheit. Der Westen ist der Westen ist der Westen. Die Gegner sind verschwunden oder ausgelagert.
Als jemand aus dem Osten, hatte ich tatsächlich das Gefühl, aus der Zukunft zurückgekehrt zu sein (Boris Groys). Jetzt gab es nur noch Gegenwart. War Zukunft zuvor von offizieller Seite notgedrungen positiv besetzt gewesen, so hatte ich selbst gesellschaftliche Erwartungen an die Zukunft, mit denen sich Hoffnungen auf Besserung verbanden. 1990 kam uns diese Zukunft abhanden. Wir konnten sie nur als ein möglichst besseres Heute denken, aber nicht mehr als etwas anderes. Wir waren ja schon in der besten aller Welten angekommen. Plötzlich gab es einen Sieger der Geschichte. Was der Westen gemacht hatte, war richtig, was der Osten gemacht hatte, war falsch. Fortan würde nur noch gemacht werden, was richtig war.
Was unter Reagan und Thatcher bereits im Aufwind gewesen war, die Privatisierungen und Ökonomisierung praktisch aller Lebensbereiche, aber ebenso eine Außenpolitik, die den Einsatz des Militärs mit neuer Selbstverständlichkeit zu ihren Mitteln zählt, hatte aber immer Widerspruch und Widerstand erlebt und seine Grenzen gefunden. Mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren diese Grenzen verschwunden und der Widerstand in den westlichen Ländern versiegte auf schier unheimliche Weise. Das Ziel, an dem sich alle politischen Entscheidungen auszurichten hatten, hieß wirtschaftliches Wachstum. Sobald ein Vorschlag, ach, ein Gedanke, in Verdacht gerieten, das Wachstum zu hemmen, waren sie sowohl in der politischen Arena wie an den meisten Stammtischen erledigt. Politik war dazu da, Wachstum zu befördern. Praktisch jedes Problem musste erst durch das Nadelöhr Wachstum kommen, wollte es auf eine Lösung hoffen. Das beste Mittel um Wachstum zu schaffen, sollte eine allumfassende Privatisierung sein. Weniger Staat, mehr Markt. Das hieß: Je mehr Freiheit, desto mehr Wohlstand. Kaum jemand fragte: Freiheit für wen? Freiheit wovon? Wohlstand für wen? Worte wie Kapitalismus, Klassenkampf oder Profitmaximierung wurden im Sprachgebrauch tunlichst vermieden. Zu fragen, wer woran verdient, wem das und das nutzt oder zu wessen Nachteil dies oder jenes ist, galten als unfein und waren ein Ausweis von vulgärem Denken. So verschwanden just in dem Moment Worte und Fragen aus dem Alltag, da sie notwendiger denn je gewesen wären, um die neue Wirklichkeit zu beschreiben.
Die Ideologie besteht darin, die Fakten und Tatsachen so aussehen zu lassen, als handele es sich um etwas Gegebenes, naturgesetzlich Vorgefundenes, womit wir uns abzufinden, womit wir uns zu arrangieren haben. Dieser Sprachgebrauch lockt von den politischen, sozialen, ökonomischen und historischen Zusammenhängen und Fragen weg, und führt in Gefilde, in denen es keine Infragestellung des Status quo gibt, in denen alle Zwänge Sachzwänge sind und gegensätzliche Interessen nur an der Oberfläche existieren. Eine Sprache, die aus Geschichte Natur macht, eine Natur, die zu ändern nicht in unserer Macht steht, mit der wir uns zu arrangieren, an die wir uns zu gewöhnen haben. Die neuen gültigen Spielregeln wurden als die einzigen anstrebenswerten vorausgesetzt und verabsolutiert, wer sie nicht akzeptiert, stellt sich außerhalb des Diskurses.
Am Diskurs teilnehmen dürfen jene, die Profit „Shareholder value“ nennen, die zu demjenigen, der seine Arbeitskraft verkauft, „Arbeitnehmer“ sagen und zu demjenigen, der die Arbeit kauft, „Arbeitgeber“. Steuersenkung für Unternehmen und Unternehmer werden „Entlastung der Investoren“ genannt, aus der Senkung der social security wird „Leistungskürzung für Arbeitsunwillige“, die Belastung für Arme heißt „Eigenverantwortung“, die Kürzung der Arbeitslosenhilfe wird zum „Anreiz für Wachstum“, die Senkung der geringsten Einkommen wird als „globale Konkurrenzfähigkeit“ oder „marktgerechte Beschäftigungspolitik“ bezeichnet, Gewerkschaften, die für Flächentarifverträge eintreten werden zu „Tarifkartellen“ und „Bremsern“ und so weiter. (Ivan Nagel, Falschwörterbuch, Berlin 2004)
„Man pflegt das Schiller-Distichon von der ’gebildeten Sprache, die für dich dichtet und denkt‘, rein ästhetisch und sozusagen harmlos aufzufassen“, schreibt Victor Klemperer in seiner LTI (Victor Klemperer, LTI (Lingua Tertii Imperii). Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947). „Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse.“
Mit den Worten, die ich benutze, mit der von mir gesprochenen und geschriebenen Sprache fallen Vorentscheidungen in meinem Fühlen, Denken und Handeln. Das Bild, das ich mir von mir selbst und von der Welt mache, hängt auch davon ab, welche Worte ich wähle, welche Bedeutung ich diesen Worten als Einzelner gebe und welche Bedeutung die Gesellschaft als Ganzes ihnen gibt.

Wer die neuen Kleider nicht sieht, gilt als unverzeihlich, als unerlaubt dumm.
Dieses Attribut hat es in sich. Dumm wäre ja nicht so schlimm, aber unverzeihlich heißt: Diesen Fehler machst du nur ein einziges Mal, danach bist Du erledigt.

Als Jugendlicher wurde mir einst von einem Radiojournalisten ein Mikrophon unter die Nase gehalten. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, ich weiß nur noch, dass ich plötzlich „Herr Honecker“ sagte. Mir selbst war im Moment, da ich es aussprach, klar, dass irgendwas nicht stimmte. Ich sah auch die Zornesfalte auf der Stirn des Journalisten. Das Interview wurde abgebrochen und ich wurde belehrt, dass ich „Genosse Honecker“ oder besser noch „Genosse Erich Honecker“ zu sagen hätte und auch von „Generalsekretär“ war die Rede.

Es gibt aber auch heute wieder Worte, die – einem schönen Vergleich von Günter Gaus zufolge – wie der Geßler-Hut aus dem Wilhelm Tell gebraucht werden. Wehe, Du grüßt sie nicht, wehe, Du sprichst es nicht aus. „Unrechtsstaat“ ist so ein Wort geworden. Er oder sie weigert sich, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen.

1990 ging mir dieses Wort flott über die Lippen. Ich hatte zwar nie mit der DDR-Justiz zu tun gehabt, aber sobald es auch nur entfernt um etwas Politisches ging, hatte ich kein Vertrauen zu ihr. Was da als Straftat galt – von Republikflucht bis Devisenvergehen – zeigte ja nur, dass der Staat selbst es war, der Unrecht verübte.
Heute jedoch käme mir dieses Wort nicht mehr über die Lippen. Nicht weil ich meine Meinung über das eben Gesagte geändert hätte, ganz im Gegenteil, aber im heutigen politischen Kontext bedeutet „Unrechtsstaat“ noch etwas ganz anderes. Vor allem: Über einen Unrechtsstaat brauchen wir gar nicht mehr zu reden. Damit ist alles, was dort gemacht oder versucht wurde, diskreditiert und ad acta gelegt. Man anerkennt zwar die Lebensleistung der östlichen Schwestern und Brüder, gibt aber unter der Hand zu verstehen, dass es eigentlich vergebliche Liebesmüh’ war. Dabei war einfach manches besser und sinnvoller als es heute ist. Angefangen bei einem einheitlichen Arbeitsgesetzbuch und dem Recht auf Arbeit über ein moderneres Familienrecht, ein kostenloses Gesundheitswesen – eine vorbildliche Krebsstatistik und Kinder- und Jugendfürsorge, die Verwaltungskosten der einheitlichen Sozialversicherung lagen bei 0,35 Prozent, heute betragen sie sieben Prozent.
Der Westen in seiner real existierenden Form besaß nach seinem eigenen offiziellen Selbstverständnis keinen Gegenentwurf mehr, wir waren in einer alternativlosen Welt angekommen. Demokratie, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Wohlstand schien es nur in einer Marktwirtschaft geben zu können, in der es Privateigentum an Produktionsmitteln gab. Noch heute resümiert jemand wie Joachim Gauck seine mit „Freiheit“ überschriebene Rede: „Und deshalb gibt es keinen Grund für den alt-neuen Versuch, eine neue Variante von Antikapitalismus in die Debatte zu bringen.“
Wundern hätte man sich aber schon dürfen, warum die Implosion des Ostens jede Alternative zum Bestehenden aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verbannen konnte. Denn der real existierende Sozialismus in seiner erstarrten Gestalt wurde ja nie – zumindest nicht von der Mehrheit jener, die in ihm zu leben hatten – als Alternative verstanden. Das war ein vormundschaftlicher Staat, keine Demokratie. Und Freiheit und Demokratie waren ja die Forderungen des Herbstes ’89. Es gab kein Plakat, keinen Slogan, keinen Sprechchor für die Privatisierung, keine Forderung, das Recht auf Arbeit abzuschaffen. Warum sollten Freiheit und Demokratie nicht mit dem gesellschaftlichen Eigentum an Produktionsmitteln möglich sein? Diese Frage wurde damals von einigen wenigen gestellt, aber sie fand kaum Gehör im freiheitlich demokratischen Medienapparat. Im Grundgesetz findet sich kein Paragraph, der von privatem Eigentum an Produktionsmitteln spricht. 1947 hatte selbst die neu gegründete CDU gerade in Großindustrie und Konzernen eine Bedrohung von Freiheit und Demokratie gesehen. In ihrem Ahlener Parteiprogramm von 1947 formulierte sie: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.“

Solche Gedanken, bleibt festzuhalten, waren spätestens nach dem Mauerfall nicht nur gestrig, sie waren unverzeihlich dumm.

Wir haben das Märchen in dem Moment verlassen, in dem bereits alle in der Stadt wussten,

was es mit den neuen Kleidern auf sich hat. Im Sinne der Betrüger ist die Sache damit gelaufen. Ihre Version hat die Deutungshoheit erobert. Kann man denn da noch von jemandem, auch wenn er der beste Mann im ganzen Staat ist, erwarten, dass er sich allein gegen die öffentliche Meinung stellt? Dass er sich dem Verdacht aussetzt, für sein Amt ungeeignet und unverzeihlich dumm zu sein?

Man kann es und man muss es sogar! Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dagegen. Das Fatale ist nur, der gute alte Minister glaubt bereits selbst daran. Er hat, wie offenbar alle anderen auch, diese Sichtweise bereits internalisiert. Er glaubt den Worten der beiden Fremden mehr als dem eigenen Augenschein. Die ganze Erfahrung eines Lebens vermag offenbar nichts gegen die Illusion von zwei Fremden. Er reißt die Augen auf, sieht nichts, hat sich aber in der Gewalt und fügt sich dem neuen Geist und erkennt die neuen Kleider. Ja er „merkt gut auf“, um dem Kaiser die Farben und das seltsame Muster erklären zu können. In seiner Not verleiht er dem Trugbild Substanz. Er zeugt als erster für dessen Wahrheit. Für den nächsten wird es nun noch schwerer, seinen Augen zu trauen.

So kommt es wie es kommen musste: Ein anderer tüchtiger Staatsmann wird ausgesandt,

„er guckte und guckte; weil aber außer dem Webstuhl nichts da war, so konnte er nichts sehen.“ Er zweifelt nicht an seiner Klugheit, aber an seiner Tauglichkeit für das ihm zugewiesene Amt. Das aber will er nicht verlieren. „Ja, es ist ganz allerliebst!“ sagt auch er schließlich zum Kaiser. Und dann heißt es wieder: „Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge.“

Als Dritter erscheint der Kaiser selbst. ?Aber da müssen schon nicht mehr die „listigen Betrüger“ ihre Sache betreiben. Sie können sich zurückhalten und fleißig weiterarbeiten, denn es sind die beiden „ehrlichen Staatsmänner“, wie Andersen sie nennt, die Staatsdiener, die das Geschäft der Gauner übernommen haben. „Ja, ist das nicht prächtig?“, sagen die beiden und erklären dem Kaiser seine neuen Gewänder.

Der Kaiser – wen wundert es noch – zweifelt nicht an den anderen, sondern an sich selbst. Nicht zum Kaiser zu taugen ist für ihn das Schrecklichste – und so finden die nicht vorhandenen Kleider auch seinen „allerhöchsten Beifall“! Der Hofstaat ist entzückt.

Andersen beschreibt, wie ein Kalkül – geschickt und selbstbewusst eingefädelt – gegen alle Erfahrung und Wahrscheinlichkeit, auch gegen jeden Augenschein und Nachprüfbarkeit – von einer Gesellschaft Besitz ergreift.

Vor ein paar Tagen wurde ich in einem Email-Interview gefragt, warum ich denn überrascht sei, dass im Kapitalismus Arm und Reich immer weiter auseinanderdrifteten. Nicht zuletzt aufgrund meiner Sozialisation hätte ich es doch besser wissen müssen.

Dieses Argument überraschte mich. Ich entblödete mich nicht, gleich zurückzuschreiben, ob er, der Interviewer, aus dem Westen käme? Denn natürlich hatte es mich überrascht. Was ich in der DDR über den Kapitalismus zu hören bekam, interessierte mich nicht besonders. Schließlich billigte man mir ja nicht zu, mir selbst vor Ort ein Urteil zu bilden. Der Interviewer bekannte, aus Leipzig zu stammen, derselbe Jahrgang wie ich zu sein, gestand dann allerdings, dass seine Verwunderung in der Frage auch nur gespielt gewesen sei. Das führte dazu, dass wir uns nun beide wunderten, warum wir so überrascht worden waren.

Als ich in meinen Roman Neue Leben die Hauptfigur eine Novelle aus seiner Schulzeit schreiben ließ, in der unter anderem auch eine Stunde Staatsbürgerkundeunterricht vorkommt, baute ich Zitate aus meinem Staatsbürgerkundehefter der 9. Klasse ein – aufgeschrieben im Oktober 1977. In der Novelle heißt es: „’Das Ziel der kapitalistischen Produktion besteht in der Gewinnung des höchstmöglichen Mehrwertes, also der Profit, durch Verschärfung der Ausbeutung.‘“ In einem Kästchen erschien „angeeigneter Profit“, von dem wiederum links und rechts ein Pfeil abging. Links: „für persönliche Zwecke/luxuriöses Leben“; rechts: „Kapital für den Ankauf neuer Maschinen, damit ständig mehr Mehrwert erzeugt wird“.

„Bei Strafe des eigenen Untergangs“, rief Dr. Bartmann, „ist jeder Kapitalist gezwungen, die Produktion zu modernisieren und den Kampf gegen die anderen Kapitalisten zu führen. Dieser Konkurrenzkampf bewirkt eine ständige Verschärfung der Ausbeutung. (…) Das ist das Wolfsgesetz des Kapitalismus. Das Wolfsgesetz bewirkt …“

Ich weiß noch, wie zwiespältig ich fühlte, als ich dies aus meinem Hefter abtippte. Zum einen machte mich die Erinnerung an jene Schulstunden beklommen. Zum anderen klang das wie Klartext, eine Wahrheit, die mich betraf. Und wenn auch die Bezeichnung Kapitalist altertümlich wirkte, stimmte doch – so fand ich plötzlich – das ganze heute mehr noch als 1977. Unter Punkt c des Wolfsgesetzes folgte dann „Kampf um Absatzmärkte und Rohstoffe, Klammer auf, Kriege, Neokolonialismus, Klammer zu.“

Die Feststellung, dass die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden, könnte als Überschrift über die letzten zwanzig Jahre geschrieben werden. Noch nie war der private Reichtum so groß, noch nie war die öffentliche Verschuldung so hoch. Heute sind wir laut Bund der Steuerzahler mit 2030 Milliarden verschuldet, das sind pro Kopf ca. 24.700 Euro. (Die Verschuldung der DDR betrug nach den Berechnungen der Bundesbank von 1999 20 Milliarden D-Mark, das sind pro Kopf ca. 1.200 D-Mark, die OECD berechnete für die DDR pro Kopf 674 Dollar Schulden. Selbst wenn man das sehr großzügig inflationsbereinigt, kommt man auf nicht mehr als 1.000 Euro pro Kopf.)

Der Bund der Steuerzahler versucht unsere heutige Verschuldung durch ein Beispiel zu veranschaulichen: „Würden ab sofort keine Schulden mehr aufgenommen und würde die öffentliche Hand gesetzlich verpflichtet, neben allen anderen Ausgaben für Personal, Investitionen, Sozialleistungen, Zinsen etc. jeden Monat auch eine Milliarde Euro an Schulden zu tilgen, so würde dieser Prozess 169 Jahre lang andauern müssen, um den Schuldenberg vollständig abzutragen.“ Jeder achte Euro, der eingenommen wird, muss allein für die Zinsen ausgegeben werden.

Immer wieder wird das Ausgabenverhalten der Staaten als Ursache für die Krise angesehen, denn Länder mit soliden Staatsfinanzen, so die Argumentation, würden Spekulanten gar keine Möglichkeit bieten, sie in die Enge zu treiben. Das allein schon ist ein befremdliches Denken. Merkwürdiger Weise wird bei Staaten immer auf die Ausgaben gesehen, die in aller Regel direkt oder indirekt der ganzen Gesellschaft zugute kommen – es sei denn, wir brauchen ein paar hundert Milliarden, um die Banken zu retten. Warum wird eigentlich nicht gefragt, ob es die fehlenden Einnahmen des Staates sind, die ihn in die Verschuldung, in die Krise treiben?

Unser Gemeinwesen wurde und wird von den demokratisch gewählten Volksvertretern systematisch gegen die Wand gefahren, indem es seiner Einnahmen beraubt wird. Der Spitzensteuersatz wurde in Deutschland von der Schröder-Regierung von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt, die Unternehmenssteuersätze (die Gewerbesteuer und die Körperschaftssteuer) wurden zwischen 1997 und 2009 fast halbiert, nämlich von 57,5 Prozent auf 29,4 Prozent. Die Steuer auf Kapitalerträge, die sogenannte Abgeltungssteuer, wurde auf 25 Prozent gesenkt. Auch die Erbschaftssteuer wurde teilweise abgesenkt.

Wenn die Kassen leer sind, muss noch mehr Vermögen privatisiert werden, müssen Stellen gestrichen und Dienstleistungen privatisiert werden, müssen Sponsoren gefunden werden, Schwimmbäder und Bibliotheken geschlossen, die Gebühren in der Musikschule erhöht werden etc. etc. Es trifft jene, die jeden Euro umdrehen müssen.

Eine andere Variante, das Gemeinwesen zu schwächen, ist – fast gleichlautend zu den Schmähungen seines Ausgabenverhaltens – der Ruf nach einem schlanken Staat. Wer wollte das nicht, einen entbürokratisierten Staat, also einen so schlanken wie schönen Staat. Die neoliberalen Propagandaabteilungen wie die Bertelsmann Stiftung oder die Hertie School of Governance, ganz zu schweigen von der Initiative neue Marktwirtschaft – sie sollte eigentlich Initiative Neue Kleider heißen – konnten der Öffentlichkeit dieses Schönheitsideal auch deshalb mit Erfolg unterjubeln, weil es, wie jede Halbwahrheit, berechtigte Kritik enthält. Auch die Bürokratie kann Demokratie verunmöglichen. Was aber nicht gesagt wird: Die Schwächung des Staates führt zu einem Kompetenzverlust. Die Verwaltung des Gemeinwesens verliert Fachleute oder kann sie nicht mehr bezahlen. Wundersamer Weise aber steht die Hilfe schon ungeduldig vor der Tür.

Allein in den Bundesministerien sitzen über einhundert sogenannte Leihbeamte. Das sind Mitarbeiter von Unternehmen und Verbänden, die von diesen auch bezahlt werden, aber in den Ministerien in der Funktion von Beamten arbeiten. Sie wirken an Gesetzen mit, die eigentlich ihre Unternehmen regulieren sollen. Geben Sie im Internet die Suchworte Lobbyisten in Ministerien ein oder lesen Sie das Buch Der gekaufte Staat, und Sie können sich darüber informieren, in welchem Ministerien welcher Konzern seine Leute platziert hat. Würde eine Lobbyvereinigung einem Beamten Geld zahlen, damit er etwas in ihrem Sinne bewirkt, wäre das Korruption und würde bestraft werden. Wenn man einem Lobbyisten in das Ministerium entsendet und ihm Beamtenstatus verleiht, so läuft das offiziell unter dem Namen „Seitenwechsel“ und ist ein Element des unter Rot/Grün eingeführten Regierungsprogramms „Moderner Staat – moderne Verwaltung“. Von Austausch kann aber keine Rede sein. Während „mehr als 100 Konzernvertreter teilweise jahrelang an Schreibtischen in Bundesministerien sitzen, haben gerade mal zwölf Beamte einen kurzen Bildungsausflug in die freie Wirtschaft absolviert.“ (Sascha Adamek und Kim Otto, Der gekaufte Staat. Wie Konzernvertreter in deutschen Ministerien sich ihre Gesetze selbst schreiben, Köln 2009, S. 15 )

Das betrifft aber nicht nur den Bund. Auch auf Landesebene kommt es zu aberwitzigen Konstellationen, die man jedem Romanschreiber als unrealistisch und ausgedacht um die Ohren hauen würde. Und dies nicht zuletzt mit dem Verweis auf den Rechtsstaat und dessen allumfassender Gesetzgebung. So versucht beispielsweise das sogenannte Verwaltungsverfahrensgesetz unter Paragraph 20 die Vetternwirtschaft zu unterbinden, in dem es Personen benennt, die von Verwaltungsverfahren ausgeschlossen sind: Verlobte, Ehegatten, Verwandte und Verschwägerte gerader Linie, Geschwister, Kinder der Geschwister usw. Ausgeschlossen wird aber auch „wer bei einem Beteiligten gegen Entgeld beschäftigt“ ist.

Dieses Gesetz ist aber kein Hinderungsgrund, dass beispielsweise zehn Fraport-Mitarbeiter bei der hessischen Luftaufsicht arbeiten und dort über Ausnahmen von Nachtflugverbot entscheiden. Diese Leihbeamten erhalten ihr Gehalt von der Fraport AG. Würde Fraport richtigen Beamten Geld zustecken, wäre das – wie schon gesagt – Korruption. So aber kontrolliert sich ein Konzern unter der Maske eines Landesministeriums selbst. „Unabhängige Kontrolle durch unabhängige Beamte war bislang ein Garant für das Funktionieren einer gemeinwohlorientierten demokratischen Verwaltung.“ Das scheint nicht mehr zu gelten.

Vielleicht lässt sich noch eine Erklärung dafür finden, dass der Lärmschutzbeauftragte des Landes nicht dem Umweltministerium unterstellt ist, sondern dem Verkehrs- und Wirtschaftsministerium. Keine Erklärung kann es mehr für den Tatbestand geben, dass dieser Lärmschutzbeauftragte, also der Anwalt der Bürgerinnen und Bürger, auch von der Fraport AG bezahlt wird. Zudem schreiben die Autoren, dass, wer sich bei dem Lärmschutzbeauftragten über die Fraport AG beschwert, von diesem nicht darauf hingewiesen wird, dass man es hier mit einem von Fraport bezahlten Leihbeamten zu tun hat. Und obwohl selbst angesehene Juristen wie Hans Herbert von Arnim oder der Verwaltungsrechtsexperte Professor Jürgen Keßler darin eine rechtswidrige Praxis sehen, bleibt diese rechtswidrige Übertragung staatlicher Kontrolle auf Konzernvertreter ungeahndet. Denn die betroffenen Bürger können allenfalls gerichtlich feststellen lassen, dass die eine oder andere Genehmigung von Nachtflügen nicht rechtens war. Mehr nicht. Für eine grundsätzliche Veränderung müssten sich die Leihbeamten selbst aus ihren Behördensesseln klagen. Damit ist das Gemeinwesen in diesem Fall schachmatt gesetzt. Man ist versucht, nur noch mit den Schultern zu zucken, wenn man liest, dass ein Fraport-Manager von 2001 bis 2006 in der Abteilung Luft- und Raumfahrt des Bundesverkehrsministeriums gearbeitet hat, bezahlt von Fraport als „Leiter des Planungsbüros für Luftraumnutzung am Frankfurter Flughafen“.

Wer das noch als demokratisch bezeichnet, bewundert tatsächlich die neuen Kleider des Kaisers.

Beispiele für die neuen Kleider unseres Gemeinwesens ließen sich auf jedem Gebiet unseres Lebens finden. Es gibt kaum einen Bereich, der vor der Privatisierung und damit vor der Kommerzialisierung, also vor Gewinnstreben, geschützt wäre. Besonders bitter ist das im Gesundheitswesen und in der Bildung.

Die neuen Selbstverständlichkeiten, die zu Beginn der neunziger Jahre zur Hegemonie gelangten, gelten heute unverändert weiter. Aus einer Welt ohne Alternative leitet sich eine Politik ab, die den logischen Unsinn von „alternativlosen Entscheidungen“ propagieren darf.

So lächerlich es uns erscheint, dass im Märchen alle die neuen Kleider bewundern, so selbstverständlich nehmen wir die täglichen Meldungen hin, dass die Regierungen „die Märkte beruhigen“ und „das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen“ müssten. Mit Märkten sind doch in diesem Fall die Börsen und Finanzmärkte gemeint, damit also jene Akteure, die im eigenen Interesse oder im Auftrag anderer spekulieren, um möglichst viel Gewinn zu machen. Sind das nicht jene, die das Gemeinwesen um unvorstellbare Milliarden erleichtert haben? Um deren Vertrauen sollen unsere obersten Volksvertreter ringen?

Eigentlich muss man Angela Merkel dafür dankbar sein, dass ihr der Begriff der „marktkonformen Demokratie“ entschlüpft ist. Denn damit hat sie unsere demokratische Verfasstheit auf den Punkt gebracht. Die Analogie zu Putins „gelenkter Demokratie“ erleichtert das Verstehen.

Wären die großen Medien aufmerksamer gewesen, hätten sie die Bundeskanzlerin bitten können, diesen Begriff zu erklären. Aber nicht einmal das wurde ihr abverlangt. Marktkonforme Demokratie ist das allerschönste unserer neuen demokratischen Kleider, an dem öffentlich meines Wissens noch niemand Anstoß genommen hat.

Es gilt als Selbstverständlichkeit, dass die Demokratie auf den Kopf gestellt wird. Müssten nicht die Akteure an den Börsen versuchen, das Vertrauen des Gemeinwesens zurückgewinnen? Und geht es nicht statt um marktkonforme Demokratie um demokratiekonforme Märkte? Demokratiekonforme Märkte wären Märkte, auf denen eben nicht alles erlaubt sein darf, was Geld bringt, vom dubiosen Finanzprodukt bis zur Spekulation mit Lebensmitteln?

Das auszusprechen entlarvt mich – Sie wissen es bereits – als unverzeihlich dumm, von meiner Eignung zu einem Amte ganz zu Schweigen.

Demokratiekonforme Märkte einzufordern ist aber auch eine Frage von Leben und Tod. Denn unser Alltag ist von einer mörderischen Doppelbödigkeit gekennzeichnet. Was bei uns zu Verarmung, Unfreiheit, Krankheit, Benachteiligung, Ausgrenzung führt, kostet anderswo Menschenleben.

Nachdem im Oktober 2008 die Regierungschefs der Euro-Staaten zusammenkamen und 1,7 Billionen Euro bereitstellten, um die Kreditgeschäfte unter den Banken wieder zu beleben, kürzten dieselben Länder in der Folge ihre Zuwendungen an die Hilfsorganisationen als auch die Kredite für die ärmsten Länder massiv. Das mit der Nahrungs-Nothilfe betraute Welternährungsprogramm der UNO verfügte über einen Etat von sechs Milliarden Dollar. 2011 waren es nur noch knapp drei Milliarden Dollar. Das bedeutete unter anderem: Die Schulspeisung von einer Million unterernährter Kinder in Bangladesch musste gestrichen werden. Die 300000 somalischen Flüchtlinge erhalten heute nur noch eine Tagesration von 1500 Kalorien, statt des Existenzminimums von 2200 Kalorien.

Wurden vor der Immobilienkrise etwa 13 bis 18 Milliarden Dollar in sogenannte nachwachsende Rohstoffe investiert, so waren es 2011 600 Milliarden Dollar. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln, an denen auch alle großen deutschen Banken, einschließlich der Sparkassen beteiligt sind, sorgte und sorgt für drastisch ansteigende Lebensmittelpreise. Mitunter verdoppelte sich der Preis binnen eines Jahres. Ein deutscher Vertreter des UN-Hilfsprogramms sagte in der Sendung Frontal (24. 8. 2010), dass sich 2009 die Zahl der Hungernden um 100 Millionen erhöht habe.

Zu den Hauptursachen für den Hunger in Afrika zählen aber auch die Agrarsubventionen der Industriestaaten. Die Agrarsubventionen der EU beliefen sich 2008 auf 55 Milliarden und hatten zur Folge, dass Gemüse und Fleisch aus Europa mitunter die lokalen Produzenten um ein Viertel bis ein Drittel des Preises unterbieten konnten, was zu einem Ruin der lokalen Landwirtschaft führt mit den bekannten Folgen.

Während die eine Hand spendet und Entwicklungshilfe leistet, bedient sich die andere Hand für den eigenen Gewinn.

Es wird, aller Beteuerungen zum Trotz, mit zweierlei Maß gemessen, eine Schizophrenie, die Tradition hat. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776, in der zum ersten Mal die allgemeinen Menschenrechte niedergelegt wurden, hatte Benjamin Franklin und Thomas Jefferson als Autoren. Als Jefferson 1826 starb, hinterließ er seinen Erben, neben großen Ländereien in Virginia, auch die vollen Besitzrechte an mehr als 200 Sklaven. Die Unabhängigkeitserklärung hebt an mit dem berühmten Satz: „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unabdingbaren Rechten ausgestattet sind, darunter das Recht auf Leben und Freiheit sowie das Streben nach Glück.“

Jean Ziegler, der Schweizer Publizist, der mehrere Jahre Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Nahrung war, verweist auf die sogenannten Millenniumsziele, die sich die Mitgliedsländer der UNO im Jahr 2000 gegeben haben: Halbierung der Zahl der Hungernden, Sicherung der Grundschulbildung, Stärkung der Rechte der Frau, Reduzierung der Kindersterblichkeit, Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern, Bekämpfung von HIV/Aids, Schutz des Klimas, globale Entwicklungspartnerschaft zwischen dem Westen und dem Süden. Die Bilanz fällt erbärmlich aus. Die Zahl der Hungernden ist angestiegen, nach der UNO-Statistik von 785 Millionen schwer und permanent unterernährten Menschen im Jahr 2000 auf 854 Millionen im Jahr 2008. Danach verschärfte die Krise sowie die Spekulation mit Lebensmittel die Situation, so dass für 2009 rund eine Milliarde gezählt wird.

Nur zwei Zahlen noch: 2008 starben im subsaharischen Afrika 500000 Frauen bei der Entbindung. Weil die wirksamen Aids-Medikamente für Afrika unerschwinglich sind, waren 2003 zwölf Millionen Kinder verwaist, 2010 waren es 18 Millionen.

Zieglers Beispiele ließen sich lange fortführen. Eines will ich noch hinzufügen: Mit großer Wahrscheinlichkeit ist auch der Computer, auf dem ich diese Zeilen schrieb, ist das Handy, das ich in der Tasche trage, auch mit jenem so raren Tantal ausgerüstet, das im Osten der Volksrepublik Kongo unter den grauenhaftesten Bedingungen gewonnen wird. Und das so billig ist, dass es alle Konkurrenz schlägt. Und ziemlich sicher ist, dass diese Geräte von Menschen zusammengeschraubt worden sind, die von einer 60-Stunden-Woche nur träumen können.

Ziegler fragt dann: „Warum diese Blindheit? Warum diese ungerührte Arroganz, während Hunderte von Millionen Menschen sich über die Doppelzüngigkeit empören und dem Westen das Recht auf moralische Hegemonie absprechen?“

Er antwortet vorsichtig – als würde er selbst vor dieser Erkenntnis zurückschrecken: „Ich formuliere eine Hypothese“, schreibt Ziegler. „Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Misskredit, in den die kommunistische Idee geraten ist, haben ein Schwarzes Loch geschaffen. Der (selbstverständlich notwendige) Fall der Berliner Mauer hat alle Emanzipationsperspektiven begraben und sogar jeden Gedanken an Protest vertrieben. (…) Seit dem Mauerfall ist der Gedanke an eine andere Weltordnung, ein anderes Gedächtnis, einen anderen Willen in Verruf geraten.“ (Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen, S. 120 ff., München 2009/2011)

Die einen mögen es paradox nennen, die anderen folgerichtig oder eine Binsenweisheit. Die Selbstbefreiung des Ostens, die Übernahme der kapitalistischen Produktionsweise und die dadurch mögliche Globalisierung der Wirtschaft haben ein Gewinnstreben entfesselt, das bisher ohne angemessene politische Gegenkraft geblieben ist. Angemessen heißt zum einen: mindestens so internationalisiert wie die Konzerne, zum anderen: mindestens so selbstbewusst und entschieden wie sie. Angesichts der Ausplünderung ganzer Staaten darf man wohl wieder auf die altbekannte Fußnote aus dem Kapital verweisen: „Kapital flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wir lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren.“

Harald Welzer verwies kürzlich in einer Rede – in der er forderte, sich selbst wieder ernst zu nehmen – darauf, dass die heutige Welt tatsächlich so aussehe, wie er sie sich als Fünfzehnjähriger vorgestellt habe, nämlich dass sich die Entscheidungsgewalt in den Bereichen der Finanzen und in der Wirtschaft in erstaunlich wenigen Händen konzentriert. Einer Studie der ETH Zürich zufolge, die die Vernetzung der Konzerne untereinander durch Beteiligungen untersucht hat, kam zu einem zweifach überraschenden Ergebnis: 1318 Konzerne üben die Kontrolle über alle 43060 international tätigen Unternehmen aus, die 2007 in der Wirtschaftsbank Orbis erfasst waren, wobei 40 Prozent wiederum in den Händen von nur 147 Unternehmen liegen. Die zweite Überraschung: Die Plätze 1 bis 49 nehmen ausschließlich Banken und Versicherungsgesellschaften ein. Man braucht keine Verschwörungstheorien zu bemühen. Es reicht schon eine Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (Harald Welzer anlässlich von Angriff auf die Demokratie - Eine Intervention, im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 18.12.2011).

Andersen lässt auf dem Höhepunkt der Zustimmung die Geschichte ohne Vorbereitung kippen. Der Kaiser geht in der Pracht seiner neuen Kleider umher. Dann heißt es: „Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese. ?’Aber er hat ja gar nichts an!‘, sagte endlich ein kleines Kind.“

Was heißt eigentlich: „solches Glück gemacht“? Übersetzt man es nicht vereinfachend mit „Erfolg gehabt“, wird es schwierig: War das Volk nun glücklich darüber, nicht mehr unsicher wägen zu müssen, sondern ohne Anstrengung Erkenntnis zu erhalten? Weil die Welt und der Nachbar und man selbst vermeintlich einschätzbar wurden? Aber wie kann man Glück empfinden, wenn man seinen eigenen Augen nicht mehr trauen darf? Aber das wäre schon eine andere Rede. Nicht überlesen werden sollte das Attribut „klein“, ein kleines Kind ist es, das unbefangen seinen Augen traut. Andersen wollte wohl auf Nummer sicher gehen, sein Kind konnte gar nicht klein genug sein, um noch nicht von der Sichtweise der Erwachsenen angesteckt zu sein. In dem Adverb „endlich“ versteckt sich ein Seufzer der Erleichterung, als sei selbst der Erzähler angesichts des merkwürdigen Verhaltens seiner Figuren an die Grenzen seiner Geduld gekommen. Endlich spricht es einer aus!

Stellen Sie sich vor, Sie hörten diese Geschichte zum ersten Mal und sollten sie aufgrund Ihrer Erfahrungen zu Ende schreiben. Läge es nicht nahe, statt der bekannten Wendung nun zu erzählen, wie das Kind gescholten und verlacht und womöglich bestraft wird, wenn es nicht schweigen will? Und zu beschreiben, wie die Eltern den Umstehenden versichern, dass man ihrem Bengel oder ihrer Göre diese Dummheit nicht übel nehmen solle, es sei ja nur ein Kind und wisse nicht, was es da rede.

Dass es nicht so ausgeht, hat einen Grund. Auf den Ruf des Kindes folgt der Satz: „’Hört die Stimme der Unschuld!‘, sagte der Vater;“. Und nach dem Semikolon heißt es dann: „und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.“ Diese Vaterfigur hat nur diesen einen Satz. Aber sie ist der Held des Märchens. Dieser Märchen-Vater leistet Großes: Er zeugt für den Zeugen. Er ist derjenige, der wirklich etwas riskiert. Das Kind würde schlimmstenfalls ausgelacht oder ausgeschimpft werden. Der Vater aber, der den Ruf seines Kindes aufnimmt, setzt seine bürgerliche Existenz aufs Spiel. Hat er ein Amt, so könnte er sich nun als untauglich dafür erwiesen haben. Seine Mitbürger könnten ihn geschlossen unverzeihlich dumm nennen und ächten. (Ist seinem Ruf nicht sogar noch eine gewisse Vorsicht anzuhören, als ließe sich diese Formulierung notfalls auch zur Entschuldigung umdeuten?). Was aber ist es, was das kleine Kind und seinen Vater von den anderen unterscheidet? Sie vertrauen ihren fünf Sinnen. Bei dem kleinen Kind verwundert das nicht. Bei dem Vater ist es zumindest nicht selbstverständlich. Er beweist Mut. Wichtiger aber noch: Er nimmt sich selbst ernst. Das scheint das Schwierigste zu sein.

Die anderen Erwachsenen bleiben vorerst in der Deckung. Zwar zischeln und flüstern und wispern sie es untereinander weiter. Vernehmlich artikulieren sie sich aber erst später und dann als Sprechchor, in der die Stimme des einzelnen nicht mehr zu erkennen ist. „’Aber er hat ja gar nichts an!‘, rief zuletzt das ganze Volk.“

Über die folgenden beiden Sätze des Märchens, die Schlusssätze, ließe sich gar eine dritte Rede schreiben. Der Kaiser, der von dem, was sein Volk sagt, ergriffen ist, der dem Volk auch recht gibt, aber nur für sich selbst, dieser Kaiser versteht, dass er jetzt nicht mehr anders kann, dass er jetzt durchhalten muss – und mit ihm sein ganzer Hofstaat. Der Kaiser könnte daraus als gebrochener Mann hervorgehen, er könnte sich aber auch zum Despoten aufschwingen, zu einer Orwellschen Figur, der auf der Wirklichkeit seiner neuen Kleider wider besseres Wissen beharrt und bereit ist, seine Wahrheit mit allen Mitteln durchzusetzen. Die Schlusssätze des Märchens provozieren förmlich eine Fortsetzung, deshalb ist es ein sehr gutes Ende.

Festgehalten werden soll, dass es nicht der Ruf des Kindes ist, der den Spuk beendet. Nicht sein Ruf allein. Denken Sie an die Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht. Da ist es auch nicht Scheherasad allein, die sich von Nacht zu Nacht vor dem Tod rettet, indem sie erzählt, sondern sie vermag dies nur, weil ihre Schwester Dinarasad sie immerzu ermuntert, weiterzuerzählen, sie für das Erzählte lobt und sagt, dass sie doch noch viel Köstlicheres zu erzählen weiß.

Mir erscheint es einleuchtend, dass es zumindest zweier Menschen bedarf, um sich gegen das zu stellen, was alle wissen, wovon alle überzeugt sind. Der Vater hätte von sich aus nicht den Mund aufgemacht und das kleine Kind wäre vermutlich verlacht worden.

Als Leser sind wir für das Kind. „Endlich sagt jemand die Wahrheit!“ Wer wollte nicht für sich die Rolle desjenigen beanspruchen, der sagt, was ist. Letztlich behaupten das ja auch die Betrüger überzeugend.

Aber ist es nicht eine Anmaßung, die Wahrheit für sich pachten zu wollen? Andersen mag es ja klar gewesen sein, dass der Kaiser keine Kleider anhatte, aber wer versichert uns, dass uns unsere Augen nicht täuschen. Einsteins gekrümmten Raum haben wir auch noch nie erblickt und der ist offenbar nicht weniger wirklich als das, was wir zu sehen glauben.

Es geht, im Alltagsleben wie beim Romanschreiben, immer auch darum, die eigenen Voraussetzungen mitzuliefern. Ich selbst habe bestimmte Bedürfnisse, Interessen und Ansprüche, von denen ich meine, dass sie mein Leben lebenswert machen und die mit Bedürfnissen, Interessen und Ansprüchen anderer übereinstimmen, ganz oder teilweise, oder kollidieren oder einander gar nicht berühren. Wären die beiden Betrüger bei Andersen gezwungen worden, ihre Interessen zu formulieren, so hätten sie wahrscheinlich gelogen und gesagt: Wir wollen dem Kaiser Kleider verkaufen, an denen er erkennen kann, wer für sein Amt geeignet ist und darüber hinaus, wer unverzeihlich dumm ist. Und dann hätte man sagen können: Was nutzen uns diese Kleider, wenn sich durch sie überhaupt keine Unterschiede feststellen lassen, wenn alle für das Amt geeignet sind und kein einziger dumm ist. Oder funktionieren sie nicht?

Gefragt nach meinen Interessen würde ich sagen:

Als Bürger dieses Landes bin ich auf Demokratie angewiesen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Demokratie bedeutet aber vor allem ein Gemeinwesen, das in der Lage ist, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Fehlen ihm die finanziellen Mittel oder das geeignete Personal dazu, so stellt es sich selbst in Frage. Deshalb müssen Vertreter gewählt werden, die die Interessen des Gemeinwesens wahrnehmen und es vor Ausplünderung schützen. Es braucht Vertreter, die Willens und in der Lage sind, eine marktkonforme Demokratie zu verhindern und demokratiekonforme Märkte zu schaffen. Es braucht Vertreter, für die Freiheit und soziale Gerechtigkeit untrennbar voneinander sind – nicht nur auf nationaler Ebene. Und es braucht eine Mehrheit, die das will und einfordert.

Vor einem Jahr kam es in Berlin zu einem Volksbegehren, das de facto den ersten Schritt zu einer Re-Kommunalisierung der Berliner Wasserbetriebe darstellt. Der rotschwarze Senat hatte 1999 49,9 Prozent der Berliner Wasserbetriebe an RWE und Veolia verkauft, wobei die nicht öffentlichen Verträge Gewinngarantien für die Privaten vorsahen. Neben anderen fatalen Auswirkungen stiegen die Berliner Wasserpreise im Schnitt um 30 bis 35 Prozent. Das Volksbegehren musste auch gegen den Widerstand des rot-roten Senates durchgesetzt werden. Trotz des politischen Gegenwindes und einem erschreckenden Desinteresse der Medien, gelang das Wunder: Es kam über etliche Zwischenetappen zu dem Volksentscheid und der wurde gewonnen, obwohl das Budget der Aktivisten bei etwa 25000 Euro lag. Das Niederschmetternde daran ist allerdings, dass diese Initiative von einem Dutzend wacher Demokraten, sich gegen den gesamten demokratischen Apparat durchklagen musste, und dass es darum ging, Beschlüsse von demokratisch gewählten Vertretern rückgängig zu machen. Jetzt hat sogar das Kartellamt verfügt, die Berliner Wasserpreise um 19 Prozent zu senken. Das Gemeinwesen, in diesem Fall der Berliner Senat, hätte einfach nur sagen müssen: Sauberes Wasser ist ein Menschenrecht, das liefern wir nicht privatem Gewinnstreben aus.

Ein anderes Beispiel erlebte ich hier in Dresden vor zwei Jahren, als es zum ersten Mal gelang, den Neonaziaufmarsch tatsächlich zu verhindern. Vor zwei Jahren war es das offizielle Gedenken, das mit der Menschenkette ein Zeichen setzen wollte. Was mich damals skeptisch gegen diese Aktion machte, war die Diskriminierung der anderen. Die Neustadt, so konnte man in der Lokalpresse nachlesen, überließ man den Rechten und Linken und der Polizei, sollten die sich doch kloppen. Dass es trotz dieser Diskriminierung, trotz der Nichtgenehmigung dieser Gegendemonstrationen, trotz der Beschlagnahme von Computern und Material der Organisatoren gelang, die Neonazis am Marschieren zu hindern, machte glücklich. Unglücklich machte, wie lange Polizei, Verfassungsschutz und Stadtverwaltung dann brauchten, um zu erkennen, wer eigentlich zu beobachten und zu kontrollieren gewesen wäre. Hauptsache jedoch war, dass die Blockaden hielten und dass sie Schule machten und nun offenbar zur Tradition geworden sind. So konnte und kann auch ein Verhalten geübt werden, das sich nicht nur zur Verhinderung von Neonaziaufmärschen geeignet ist.

Ich bin am Ende meiner Rede. Wie Sie sehen, hatte ich Ihnen nichts Neues zu sagen. Es geht darum, sich selbst wieder ernst zu nehmen, wieder zu lernen, die Interessen unseres Gemeinwesens zu formulieren und einzufordern und nach Gleichgesinnten zu suchen. Was wir Öffentlichkeit nennen, beginnt schon mit der Sprache eines jeden von uns. Wir müssen, wie auf den Straßen von Dresden oder bei dem Volksbegehren in Berlin, über die Geste und die symbolische Handlung hinaus unseren Willen kundtun, und dies – wenn nötig – auch gegen den Widerstand der demokratisch gewählten Vertreter. Wir sollten den Einfluss der Geste und der Rede auf den Zustand der Öffentlichkeit nicht gering schätzen. Aber letztlich gilt es, über das Zeichenhafte hinaus Druck zu erzeugen. Wir brauchen den Ruf „Wir sind das Volk!“ nur aus dem Museum zu befreien.

Wir sind der Souverän, im Märchen also der Kaiser, der so naiv, leichtgläubig und eitel war, dass er Geld und Gold und Seide den Betrügern schenkte und einen Orden dazu, der aber in seinen neuen Kleidern nicht glücklich werden kann.

Der Schock der Selbsterkenntnis könnte dazu führen, dass der Souverän zukünftig bei der Wahl seiner Garderobe kritischer wird, dass er darauf achtet, was ihn wirklich kleidet. Und vielleicht sitzt der Schreck so tief, dass er sich fortan auch um seine Soldaten und das Theater kümmert und in den Rat geht. Viel liegt ihm daran, zum Patenonkel des kleinen Kindes zu werden und dessen Vater beruft er zu seinem Berater. Die beiden Betrüger werden gefangengenommen und in die Stadt zurückgebracht, wo ihnen ein triumphaler Empfang zu Teil wird. Der Kaiser, der sich ein letztes Mal in Unterwäsche zeigt, und die Kammerherren, die sich ein letztes Mal nach der nicht vorhandenen Schleppe bücken, beglückwünschen die Betrüger zu ihrem Bubenstück. Als Lohn wird ihnen die Intendanz des Theaters angetragen – doch für diese Entscheidung erbitten sie sich Bedenkzeit.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ich habe mich selbst so ernst genommen, dass ich Ihnen diese Rede zugemutet habe. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit, für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.